20
Vor einem Monat waren die Castellis nach Florenz zurückgekehrt. Serena studierte bei einem begabten Porträtmaler und einem bekannten Landschaftsmaler. Jeden Morgen eilte sie in eines der beiden Ateliers, arbeitete den ganzen Tag, und abends malte sie zu Hause. Nach der Heimkehr ihrer Freunde hatte sie der Vermieterin erklärt, sie würde zu ihnen ziehen, und erfahren, die Miete sei für ein ganzes Jahr bezahlt worden. Deshalb beschloß sie, in ihrer eigenen Wohnung zu bleiben, um den Castellis nicht zur Last zu fallen.
Jedesmal, wenn sie an Beaus Großzügigkeit dachte, brannten Tränen in ihren Augen. Mochte sie ihn auch wegen seiner Selbstsucht und Herzenskälte verachten – an seiner Großmut bestand kein Zweifel.
Julia und Professor Castelli machten sie mit ihren Freunden bekannt. Bei ihren wöchentlichen Treffen in ihrem Salon versammelten sich zahlreiche Intellektuelle und Künstler. Serena wurde von Verehrern belagert. Seit ihr ein junger Anwalt zum erstenmal begegnet war, umwarb er sie beharrlich. Julias Vetter Sandro, ein erfolgreicher Bildhauer, bot ihr seine unsterbliche Liebe an, ebenso wie die beiden jüngeren Söhne eines Grafen, hochelegant in ihren österreichischen Uniformen. Jeden Tag schickte ihr der Florentiner Präfekt Blumen, und ein junger Priester, von Signorina Serenas Schönheit bezaubert, rang mit seinem Gewissen. Aber sie flirtete nur mit ihren Bewunderern. Ihr Herz war bereits vergeben.
Manchmal weinte sie immer noch vor lauter Sehnsucht nach dem Mann ihrer Träume. Doch der Kummer über ihre unerfüllte Liebe ließ allmählich nach. Oder vielleicht war sie zu beschäftigt, um zu merken, wie schmerzlich sie Beau St. Jules vermißte.
Die Nachricht von Napoleons triumphalem Einmarsch in Mailand erreichte Florenz kurz nach dem erstaunlichen Ereignis. Zwölf Tage später bedeutete die vernichtende Niederlage der Österreicher bei Marengo die neuerliche Vorherrschaft der Franzosen in Italien. Verängstigte Florentiner begannen, ihre Sachen zu packen und Wertsachen zu verstecken. Bald verließ der Haushalt des österreichischen Großherzogs den Palazzo Pitti, und die meisten Regierungsbeamten flohen aus der Stadt. Julia beschrieb die Zustände während der französischen Besatzung von 1799 und warnte Serena vor dem Mob, der erneut über Florenz herfallen könnte. Deshalb dürfe man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr ausgehen.
Zunächst hatte Serena geglaubt, der Krieg würde sich auf die nördlichen Gebiete beschränken. Um so heftiger erschrak sie, als sie Mitte Juni plötzlich französische Soldaten in den Uffizien sah. Sie kopierte gerade gemeinsam mit ein paar anderen Studenten Bronzinos manieristische ›Lucrezia Panciatichi‹.
Unbehaglich beobachtete sie die Offiziere in ihren prächtigen Husarenuniformen, mit Leopardenfellen über den Schultern und Pelzkappen voller geflochtener Kordeln und Quasten, die Schwerter in goldbeschlagenen Gurten.
Doch sie ignorierten die Studenten. Der Kommandant zeigt auf mehrere Gemälde, und ein Adjutant machte sich Notizen, während einige Soldaten die ausgewählten Bilder von den Wänden nahmen und hinaustrugen.
Dann blieben sie vor der ›Lucrezia Panciatichi‹ stehen und bewunderten ihre elegante Schönheit.
»Dieses Porträt auch«, hörte Serena den Kommandanten zu seinem Adjutanten sagen. Als er sich umdrehte, entdeckte er sie. Mit leiser Stimme gab er seinen Männern irgendwelche Anweisungen, und alle Husaren starrten sie an. Nach kurzem Zögern ging er zu ihr. Laut klickten seine Sporen in der plötzlichen Stille. Bonjour, Mademoiselle«, begann er und verbeugte sich. »Sie gleichen einer Dame, der ich schon einmal begegnet bin.«
»Da müssen Sie sich irren, Monsieur«, erwiderte sie und legte ihren Pinsel beiseite, damit er ihre Hand nicht zittern sah.
»Ah, Sie sprechen französisch. Das wird General Massena gefallen. Wir nehmen sie mit«, erklärte er seinem Adjutanten.
»Nein!« rief Serena, und der junge Kommandant wandte sich ihr wieder zu.
»Keine Bange, Mademoiselle, Sie haben nichts zu befürchten. Der General weiß blonde Frauen zu schätzen«, fügte er hinzu und erwähnte nicht, sie würde wie die Zwillingsschwester der Gräfin Gontschanka aussehen, die Massena letztes Jahr in Zürich beglückt hatte.
Einer der Soldaten packte Serenas Arm und führte sie zum Ausgang. »Wohin bringen Sie mich?« fragte sie entsetzt.
»Zum General«, antwortete der Kommandant in mildem Ton.
»Erlauben Sie mir wenigstens, meine Familie zu verständigen …« Mühsam bekämpfte sie ihre Hysterie.
»Natürlich, Mademoiselle. Geben Sie François Bescheid. Er wird ihre Nachricht sofort weiterleiten.«
Inzwischen hatten sie die Piazza erreicht, wo mehrere Planwagen mit Kunstwerken aus den Uffizien beladen wurden. Ehe Serena in eine Kutsche gehoben wurde, eilte der Adjutant zu ihr, und sie durfte ihm eine paar Worte diktieren. »Ich werde zu General Massena gebracht«, teilte sie den Castellis mit. »Bitte, helft mir.«
Einige Stunden später erhielt Julia ein kurzes Schreiben. »Ich besuche General Massena«, las sie. Offensichtlich stammte die Unterschrift nicht von Serena.
Julias Bittgänge zu den städtischen Behörden blieben erfolglos. Gegen die Vorhut von General Massena, dem soeben ernannten Oberbefehlshabers des französischen Heeres in Italien, konnten sie nichts ausrichten.
Als Beau nach einigen Tagen vor Serenas Wohnungstür stand, fiel ihm die Vermieterin schluchzend in die Arme. »Die Franzosen haben sie weggebracht! Endlich hat der Allmächtige meine Gebete erhört und Sie hierhergeschickt, Signore!«
Sanft schob er sie von sich, bezwang seine Panik und bat: »Sprechen Sie doch langsam.«
Da erzählte sie, was sie erfahren hatte, und beantwortete seine Fragen, so gut sie es vermochte.
Fünfzehn Minuten später klopfte er an die Tür der Castellis, und Julia erkannte den attraktiven dunkelhaarigen Mann, den Serena so oft malte. Allzuviel hatte die Freundin ihr nicht anvertraut. Aber Julia vermutete, daß Serena auf der Reise von England nach Italien ein Liebesabenteuer erlebt hatte. Und beim Anblick des attraktiven Besuchers verstand sie, warum er ihre Freundin faszinierte.
Er stellte sich als einen Freund Serenas vor, und die Castellis baten ihn ins Haus. In knappen Worten informierten sie ihn über Serenas Festnahme und die wenigen Tatsachen, die sie erfahren hatten.
Lautlos verfluchte er sich, weil er nicht früher hierhergekommen war. Als er hörte, Serena sei schon seit vier Tagen in der Gewalt des Feindes, drehte sich ihm schier der Magen um. Nur zu gut wußte er, wie sich die französischen Beutemacher zu amüsieren pflegten.
Julia hatte mit mehreren Leuten gesprochen. Nun wiederholte sie die Berichte der Kunststudenten, der Arbeiter, die Gemälde in die Planwagen geladen hatten, und des Jungen, der mit jener kurzen Nachricht zu den Castellis gekommen war. Währenddessen bezähmte Beau seine Angst und begann, Serenas Rettung zu planen.
»Lassen Sie uns helfen!« flehte Julia. »Dürfen wir Sie begleiten?«
»General Massenas Hauptquartier liegt in Mailand«, erklärte ihr Vater. »Dort haben wir Freunde, die uns nützen könnten.«
»Vielen Dank für Ihr Angebot«, entgegnete Beau, »aber allein werde ich mein Ziel viel schneller erreichen.«
»Wir fahren oft nach Mailand, um Gemälde für echt oder unecht zu befinden. Also kennen wir die Stadt sehr gut. Mit Pistolen kann ich ebensogut umgehen wie mit Schwertern.« Der kleine Professor, nicht viel größer als seine Tochter, straffte die Schultern. »Lord Rochefort, es wäre mir eine Ehre, Ihnen beizustehen.«
»Das weiß ich zu schätzen, aber glauben Sie mir, allein komme ich schneller voran. Vor meiner Abreise muß ich einen Bankier sprechen. Würden Sie das arrangieren?« bat Beau in der Hoffnung, Massena und sein Stabschef Solignac wären immer noch so geldgierig wie eh und je. »Kennen Sie jemanden, der möglichst schnell Kreditbriefe einlösen würde?«
Während Beau durch die mondhelle Nacht ritt, trug er genug Geld bei sich, um dem General ein Dutzend Frauen abzukaufen, und ein Schreiben, das ihn als Repräsentanten der Bank Allori und Söhne auswies.
Was immer es kosten mochte, er würde Serena zurückgewinnen – ob sie es wollte oder nicht. Mit welcher Taktik er das Ziel seiner Wünsche erreichen sollte, würde er erst später beschließen. Als Pitts Verbindungsmann hatte er gelernt, sich stets den jeweiligen Situationen anzupassen. Andere würden vor den schwierigen Aufgaben zurückschrecken, die er immer wieder übernahm. Aber er liebte das Risiko und war allen Gefahren gewachsen.
Auf der Reise nach Mailand wurde Serena äußerst höflich behandelt. Die Wagenkolonne hielt häufig an, vor allem in den Höfen der reichen Klöster, wo Kommandant Solignac ›Spenden‹ entgegennahm.
Wenn sie in Gasthöfen übernachteten, bewohnte Serena stets ihr eigenes Zimmer. Der Adjutant servierte ihr die Mahlzeiten, und sein Stabschef schickte ihr elegante Kleider, heißes Badewasser und Bücher, um ihr die Langeweile zu vertreiben.
Beinahe fühlte sie sich wie eine Gans, die vor Weihnachten gemästet wurde. Da sie dem General unbeschadet übergeben werden sollte, wagte keiner der Soldaten, sich an ihr zu vergreifen. Sie versuchte, nicht an das Ende der Fahrt zu denken. Aber ihre Verzweiflung wuchs mit jeder Stunde. Warum gerade ich, fragte sie sich, lehnte den Kopf an die Lederpolsterung der Kutsche und kämpfte erfolglos mit ihren Tränen.
Eines Tages wartete sie vor einer Postkutschenstation bei Parma, während die Pferde gewechselt wurden. Als sie am Straßenrand eine junge Bettlerin mit zwei Kindern stehen sah, erschienen ihr die eigenen Sorgen trivial. Bestürzt musterte sie die ausgemergelten, zerlumpten Gestalten. Sie selbst – die künftige Geliebte des Generals – wurde wenigstens gut ernährt und schön gekleidet. Spontan nahm sie die Perlen ab, die Beau ihr in Lissabon geschenkt hatte, winkte die Frau zu sich und drückte ihr die Kette in die Hand. »Nehmen Sie das, kaufen Sie Ihren Kindern was zu essen.«
Angesichts des kostbaren Geschenks brach die junge Frau in Tränen aus, küßte Serenas Hand und dankte ihr überschwenglich. »Früher waren wir keine Bettler, Signorina. Aber seit mein Mann Giovanni im Frühling bei der Schlacht von Magnano fiel, geht es uns sehr schlecht.«
»Das tut mir leid.«
»Kommt her, Kinder!« Die Frau schob einen Jungen und ein kleines Mädchen, das Serena schüchtern anlächelte, zum Wagenfenster. »Bedankt euch bei der freundlichen Signorina.«
»Vielen Dank«, sagte der Junge ernsthaft. In dem schmalen Gesicht wirkten die Augen viel zu groß. Fürsorglich hielt er die Hand seiner Schwester fest.
»In letzter Zeit wußte ich weder aus noch ein«, gestand die junge Italienerin. »Wir haben keine Verwandten. Und es ist so schwierig, Arbeit zu finden, noch dazu mit zwei Kindern …«
»Ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann. Fahren Sie mit der Postkutsche nach Florenz.« Serena nahm ein paar Münzen aus ihrer Tasche und reichte sie der Frau. »Gehen Sie zu Professor Castelli an der Accademia dell’Arte. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie zu ihm geschickt. Sicher kennt er jemanden, der die Perlen kaufen würde.« Als sie den Hoffnungsschimmer in den Augen der jungen Frau sah, vergaß sie ihren eigenen Kummer. »Sagen Sie dem Professor und seiner Tochter, es geht mir gut. Ich bin auf dem Weg nach Mailand. Und ich werde mich bald bei ihnen melden.«
Wenig später setzte sich die Wagenkolonne wieder in Bewegung, und die kleine Familie winkte Serena dankbar zu. Nachdem sie diese gute Tat vollbracht hatte, fühlte sie sich etwas besser. Sie strich den Rock des eleganten weißen Georgettekleids glatt, das ihr Solignac gekauft hatte, und zupfte die gelben Seidenschleifen an den gerüschten Ärmeln zurecht, als wollte sie sich für einen Kampf wappnen. Ich bin nicht die erste Frau, mit der sich die Eroberer vergnügen, sagte sie sich.12 Und sie würde auch nicht die letzte sein.
Was mußte man tun, um die Gunst eines Oberbefehlshabers zu erringen?
Offenbar durfte man nicht die üblichen femininen Tricks anwenden. Das fand sie sehr bald heraus, nachdem Colonel Solignac sie am nächsten Tag in Andrea Massenas Hauptquartier geführt hatte. Der General blickte von seinem Schreibtisch auf und musterte sie sekundenlang, dann beugte er sich wieder über seine Papiere. »Bringen Sie sie in meine Wohnung, Colonel.«
Noch bevor sie das Büro verließ, begann er seinen beiden Sekretären Briefe zu diktieren.
In seiner Suite im Palazzo Mombello wurde sie von einer Dienerin begrüßt, die ihr in einem eleganten Schlafzimmer mehrere Schränke voller Damenkleider zeigte. Dann knickste sie und versprach, der Signorina eine Erfrischung zu bringen. »Bitte, fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Serena entnahm dem Tonfall des Mädchens, daß sie nicht die erste Dame war, die hier einquartiert wurde. Unbehaglich dachte sie an Massenas eisblaue Augen. Obwohl er noch nicht alt war, hatte er graues Haar. Außerdem waren seine eingefallenen Wangen ein Zeugnis der Hungersnot während der Belagerung Genuas. Zu Serenas Verwunderung trug der Mann, der Italien beherrschte, eine schmucklose blaue Uniform. In diesem verschwenderisch ausgestatteten Palazzo wirkte er fehl am Platz.
Bald kehrte die Dienerin zurück, schenkte Tee ein und packte die wenigen Sachen aus, die ein Soldat aus Serenas Kutsche ins Schlafzimmer gebracht hatte. »Der General ist sehr freundlich, Signorina«, versicherte sie und legte die Bücher auf einen kleinen Tisch neben dem Lehnstuhl, in dem Serena Platz genommen hatte.
»Das freut mich«, erwiderte sie in neutralem Ton. Sollte das Mädchen ihr dienen oder sie bewachen?
»Und er sorgt gut für seine Offiziere.«
So wie sie für ihn, dachte Serena. Wie viele Offiziere nehmen Frauen gefangen, um ihn zu beglücken? »Wie nett …«
»Noch etwas Tee?«
»Nein, danke.«
»Vielleicht ein Stück Kuchen?«
»Danke, nein.«
»Möchten Sie etwas Bequemeres anziehen? Der General diniert ziemlich spät. Also werden Sie lange warten müssen.«
»Nein, ich fühle mich sehr wohl.« Serena hatte nicht die Absicht, die Rolle der Kurtisane zu spielen, solange sie es verhindern konnte.
»Gut, Signorina.« Das Mädchen schaute sich im Raum um und stellte fest, daß alles in bester Ordnung war. »Läuten Sie nach mir, wenn Sie mich brauchen.«
Drei entnervende Stunden lang wartete Serena auf den General und überlegte, welche Argumente sie Vorbringen sollte, um ihre Freilassung zu erbitten. Aber er erschien nicht. Schließlich saß sie allein an der großen Tafel im Speiseraum, umgeben von vergoldeten Spiegeln und zahllosen Kerzen. Das Essen war exzellent, die Bedienung untadelig.
Nach der Mahlzeit versuchte sie zu lesen. Um zehn Uhr lehnte sie das Angebot des Dienstmädchens ab, ihr beim Auskleiden zu helfen. Freundlich erklärte sie, vorerst würde sie nicht ins Bett gehen und sich lieber noch eine Weile mit ihrer Lektüre befassen. Der Gedanke, im Schlaf von einem fremden Mann überrascht zu werden, war grauenvoll.
Doch dann schlief sie im Sessel ein, von flackernden Kerzen umgeben.
Wie ein Kind, das sich im Dunkeln fürchtet, dachte der General, als er gegen Mitternacht in seine Suite kam, um ein Dokument zu holen. Nachdenklich betrachtete er Solignacs hübsches Geschenk. Schade, daß ich meine dringende Korrespondenz nicht ignorieren darf, dachte er. Gewiß wäre es erfreulicher, in Mademoiselles schöne Arme zu sinken. Seufzend kehrte er in sein Büro zurück, wo er seine Sekretäre bis drei Uhr nachts beschäftigte. Danach schlief er ein paar Stunden in seinem Ankleideraum, stand im Morgengrauen auf und widmete sich erneut seinen Pflichten.
Kurz nach Österreichs Niederlage bei Marengo hatte Napoleon ihn nach Mailand beordert und war nach Paris gereist, wo diverse Intrigen seine Anwesenheit erforderten. Massena mußte die ungeheure Aufgabe erfüllen, siebzigtausend Reservesoldaten und das italienische Heer zu reorganisieren und neu auszurüsten. Seit sechs Monaten hatten sie keinen Sold erhalten …
Geräusche im angrenzenden Ankleideraum weckten Serena – plätscherndes Waschwasser, Stimmengemurmel. O Gott, was sollte sie sagen, wenn der General zu ihr kam? Würde sie ihre Angst verbergen können? Zum Glück ließ er sich nicht blicken. Langsam streckte sie ihre steifen Glieder. Der Sessel war zwar weich und bequem, aber er hatte ihr nicht den Komfort eines Betts geboten.
Inzwischen rasierte Franco, Massenas Bursche, seinen Herrn und informierte ihn über die neuesten Klatschgeschichten. Hin und wieder drang das Gelächter der Männer durch die geschlossene Tür zu Serena hinüber.
»Sylvie hat mir erzählt, die Mademoiselle habe sich gestern abend geweigert, ins Bett zu gehen.«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte Massena. »Schicken Sie ihr heute ein paar Juwelen.«
»Die Gräfin hat Smaragde bevorzugt.«
»Tatsächlich? Nun, dann lassen Sie dieser neuen jungen Dame auch Smaragde bringen. Sie sieht wie Natalie aus, nicht wahr?« Die Erinnerung an die Gräfin Gontschanka erhellte Massenas strenge Miene.
»Für so was hat Colonel Solignac den richtigen Blick.«
»Wenn ich bloß Zeit fände, meine Kriegsbeute zu genießen …« Massena lachte leise.
»Gewiß ist es nicht Ihre Schuld, daß sich das Heer in diesem desolaten Zustand befindet«, murrte Franco, der dem General seit fünfzehn Jahren in unwandelbarer Treue diente. »Man erwartet zuviel von Ihnen.«
»Wie üblich, Franco. Nachdem ich alles auf Vordermann gebracht habe, höre ich neue Beschwerden.«
»Undankbare Schweine!«
»Das wissen wir beide nur zu gut.« Feixend schlüpfte Massena in das frische Hemd, das der Bursche ihm hinhielt. »Aber wir müssen die Politik des Überlebens verfolgen.«
»Pah! Als wäre Bonaparte Erster Konsul geworden, hätten Sie seine Kriege nicht gewonnen!«
»Hätten Sie nicht so gut für mich gesorgt, Franco, wär’s mir wohl kaum gelungen.«
»General, es war mir stets eine Ehre«, beteuerte Franco und rückte die Krawatte seines Herrn zurecht.
»Heute abend werde ich versuchen, mit der jungen Dame zu dinieren. Kommen Sie um acht in mein Büro und erinnern Sie mich daran.«
»Es sei denn, heute nachmittag treffen hundert weitere Depeschen ein«, seufzte Franco. »Sie sollten etwas mehr schlafen, General.«
»Ja, gewiß«, stimmte Massena mechanisch zu, in Gedanken bereits bei den Pflichten, die vorrangig erledigt werden mußten. »Servieren Sie mir den Kaffee im Büro«, fügte er hinzu und ergriff seinen Uniformrock. »Sehr schwarz und sehr süß. Zuerst muß ich den Monsignore empfangen, und der bereitet mir regelmäßig Kopfschmerzen.«
»Zum Teufel mit dem alten Sünder!« Durch und durch republikanisch gesinnt, hielt Franco den Klerus für entbehrlich.
»Manchmal amüsieren mich seine dreisten Lügen«, bemerkte Massena und schlüpfte in seinen Rock. »Aber die französische Schatzkammer braucht das Geld, das er angeblich nicht besitzt.«
Nicht zum erstenmal wurde er mit dem Problem konfrontiert, das Heer zu finanzieren. Die französische Konsulatsregierung hatte von ihren Vorgängern, dem Directoire und dem Konvent, das Prinzip übernommen, die Soldaten müßten auf Kosten besetzter feindlicher Gebiete ernährt, gekleidet und bezahlt werden. Genaugenommen waren die von Massenas Armee okkupierten norditalienischen Provinzen kein Feindesland, sondern neutrale Staaten, deren Bewohner die französische Regierung versöhnlich stimmen und in ihr politisches System einbeziehen wollte, um eine starke Phalanx gegen Österreich zu bilden. Doch dieses Ziel ließ sich kaum erreichen, wenn man die regionalen Regierungen ausbeutete.
Napoleon hatte versprochen, die erzwungenen Abgaben zurückzuerstatten. Aber Massena wußte, daß dies niemals geschehen würde, und so konzentrierte er sich auf jene Leute, die ihre Verluste am ehesten verschmerzen konnten.
Fast den ganzen Vormittag verbrachte er mit einheimischen Regierungsbeamten, die sich entschieden weigerten, die geforderten Summen herauszurücken. Am Nachmittag führte er eine ermüdende, hitzige Debatte mit den österreichischen Kommandanten über die Demarkationslinie zwischen Frankreich und Österreich, die nach dem Vertrag von Alessandria entstehen sollte. Mit diesem Abkommen war der Feldzug beendet worden, aber die Pariser und die Wiener Regierung mußten es noch ratifizieren. Infolge der vagen Formulierungen des Vertrags würden Napoleons Repräsentant Berthier und Zach, der österreichische Stabschef, noch mehrere Wochen brauchen, um sich zu einigen.
Nachdem sich die Österreicher verabschiedet hatten, übergab man Massena ein Dutzend neuer Depeschen. Als er das nächste Mal von seinem Schreibtisch aufblickte, führte Solignac einen Adjutanten Bonapartes ins Büro. Beide Männer lächelten strahlend. Der Abgesandte aus Paris brachte neun Millionen in Gold für den Zahlmeister des Heeres mit, und das mußte gefeiert werden. Solignac hatte dem ausgezeichneten Küchenchef des Generals bereits die nötigen Anweisungen erteilt. Notgedrungen fügte sich Massena in sein Schicksal und verschob alle weiteren Pflichten auf den nächsten Tag.